Gute Löhne ohne Gewerkschaft?
Amazon behauptet, dass Gewerkschaften nicht notwendig seien. Jedoch scheint der Handelsriese auf Tarifentwicklungen in der Fläche zu reagieren. Ab September erhöht Amazon unter anderem den Einstiegsbruttostundenlohn für Logistikarbeiter*innen von 14,10 € auf 15 € und für Arbeiter*innen mit Fachqualifikation und Personalverantwortung in der Halle auf mindestens 21 €. Das entspricht einer Steigerung von 6,4 Prozent für alle Arbeiternehmer*innen in den Warenlagern, Sortier- und Verteilzentren. Damit toppt der Logistikriese im Grundlohn die geltenden ver.di-Flächentarifverträge für Spedition und Logistik. Man könnte also fragen: Braucht es für gute Löhne keine Gewerkschaften?
Amazon will genau diese Ideologie verbreiten. Die Beziehungen zu seinen Beschäftigten gestalte der Konzern selbst und benötige dafür keine „dritte Partei“, also keine Gewerkschaften, heißt es. Immerhin seien alle Beschäftigten Teil des Amazon-Teams, also der Unternehmensgemeinschaft. Dass sich in der Gewerkschaft ver.di die eigenen Amazon-Beschäftigten zusammenschließen, gerade weil sie andere Interessen als Manager und Eigentümer haben, erkennt der Konzern nicht an. Gewerkschaften seien laut Amazon lediglich bürokratische Apparate, die eine eigenständige und unternehmensschädigende Agenda hätten. Mit dieser Haltung reiht sich der Konzern in eine wachsende Gruppe von Unternehmen ein, zu denen auch Tesla zählt, die Gewerkschaften in Deutschland offen feindlich gegenüberstehen und eine Tarifbindung scheuen.
Wie viel Amazon zu investieren bereit ist, um Gewerkschaften aus seinen Betrieben fernzuhalten, zeigen Beispiele aus den USA und Großbritannien. Als Amazon-Beschäftigte in Bessemer (Alabama) und Coventry (England) begannen, sich zu organisieren, startete Amazon eine große Anti-Gewerkschaftskampagne. In beiden Ländern ist eine Anerkennungsabstimmung erforderlich, bevor eine Gewerkschaft die Beschäftigten im Betrieb bei Verhandlungen vertreten darf. Mit Hilfe teurer externer Union-Busting-Berater*innen führte das Unternehmen Pflichtveranstaltungen für die Beschäftigten durch, bei denen ihnen eingeredet werden sollte, dass eine Gewerkschaftsmitgliedschaft zu einer Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen führen könnte. Im Jahr 2022 gab Amazon in den USA 14,2 Mio. Dollar für solche Berater*innen aus. Den Gewerkschaften gelang es nicht, diese Machenschaften zu verhindern. Sie lassen die Union-Busting-Praktiken von Amazon nun gerichtlich untersuchen.
Gewerkschaften setzen tarifliche Maßstäbe
Verschwiegen wird in Amazons Unternehmensideologie: Insbesondere unsere gewerkschaftliche Kampfkraft und die daraus hervorgehenden Tarifabschlüsse in der Logistikbranche und im Einzelhandel setzen die Maßstäbe für Amazons Lohnhöhe. Zusätzlich haben in den letzten zehn Jahren die Streiks in den Warenlagern den Druck auf das Management verschärft, die Löhne anzuheben. So wird der Grundlohn pro Stunde für gewerbliche Mitarbeiter*innen nach Abschluss des Entgelttarifvertrags (Spedition und Logistik) in NRW ab dem 1. Oktober 2024 bei 14,29 € liegen. Nicht zufällig verschafft sich Amazon mit seiner neuen Erhöhung einen Lohnabstand von 0,71 €. Der Online-Händler versucht damit, sich in der Konkurrenz um Arbeitskräfte einen Vorteil zu verschaffen. Fest steht also: Wenn Amazon im September die Löhne erhöht, dann deshalb, weil das Unternehmen durch ver.di-Tarifverträge in der restlichen Logistik- und Einzelhandelsbranche dazu getrieben wird.
Robert Koepp