"In der Logistik wird KI eine große Rolle spielen"

Betriebsratsarbeit bei der Nagel-Group
21.02.2024
Gunar Kotte

Wie sieht eigentlich die konkrete Arbeit von Betriebsräten vor Ort aus? Welche Erfolge verbuchen sie, welchen Herausforderungen müssen sie sich stellen? Um den Leser*innen darin Einblicke zu verschaffen, startet die be.wegen eine neue Serie: In lockerer Folge wird das Engagement einer Betriebsrätin oder eines Betriebsrat vorgestellt. Den Auftakt macht hier Gunar Kotte. Er vertritt bei der Nagel-Group als Betriebsratsvorsitzender am Standort Ottendorf-Ockrilla und als Vorsitzender des Gesamtbetriebsrats (GBR) insgesamt 7.000 Beschäftigte. Schon sein mit nur einem „n“ geschriebener Vorname macht ihn zum Unikat. „Da hat sich wohl die Krankenschwester nach meiner Geburt verschrieben“, lacht Kotte.

Die auf Lebensmitteltransporte spezialisierte Nagel-Group mit Sitz in Versmold bei Bielefeld beschäftigt europaweit an rund 130 Standorten mehr als 11.000 Mitarbeiter*innen. Zuletzt erwirtschaftete das Unternehmen einen Umsatz von rund zwei Milliarden Euro. 2016 erwarb die Nagel-Group das auf Tiefkühlkost spezialisierte Münchner Unternehmen MUK-Transthermos, seitdem ist sie in Deutschland Marktführerin im Bereich der Lebensmitteltransporte. Jährlich macht der Konzern einen Umsatz von mehr als zwei Milliarden Euro. „Rund 75 Prozent des Kühlschrankinhalts befanden sich irgendwann einmal in einem Lkw der Nagel-Group“, erklärt Kotte nicht ohne Genugtuung. Die Übernahme von Transthermos habe den GBR jedoch sehr beschäftigt, nach der Zusammenführung war das Gremium mit 72 Mitgliedern zu groß. „Wir mussten den Gesamtbetriebsrat aufgrund gesetzlicher Vorgaben komplett neu aufstellen und auf 54 Personen reduzieren.“

Gunar Kotte ist ein waschechter Sachse, der zu DDR-Zeiten eine Ausbildung bei der Reichsbahn absolvierte. Nach der Wende ließ er sich zum Heizungsbauer umschulen. Als Heirat und Familiengründung anstanden, erwies sich dieser Beruf wegen der vielen Reisen aber als nicht familienfreundlich. Kotte sattelte erneut um und fing 2002 als Lagerarbeiter bei der Nagel-Group an. Schnell stieg er zum Lagermeister auf. Neben der eigentlichen Arbeit kümmerte er sich intensiv um die Belange der Mitarbeiter. Beides zusammen rieb ihn so sehr auf, dass er 2008 einen Burnout erlitt – ein Einschnitt, der ihn in vielerlei Hinsicht umdenken ließ. Als er in den Betrieb zurückkehrte, war für ihn klar, dass er sich noch stärker für die Interessen der Arbeitnehmerschaft einsetzen wollte. 2010 ließ er sich für den Betriebsrat aufstellen; seit 2013 ist er freigestellt.

 
Kolleg*innen Nagel-Group streiken in Bayern

Immer auf Achse

Als Betriebsrat muss Gunar erneut viel reisen, aber weil die Kinder aus dem Haus sind, ist das kein großes Problem mehr. Regelmäßig fährt er nun nach Versmold in die Konzernzentrale, die meisten GBR-Treffen finden jedoch im zentral gelegenen thüringischen Friedrichroda statt. Die inzwischen selbstverständlich gewordenen Videokonferenzen erleichtern die Arbeit zwar, dennoch finden Kotte und seine Mitstreiter Präsenztreffen angenehmer. „Von Angesicht zu Angesicht kommt mehr rüber.“ Und weil ewig lange Videokonferenzen anstrengend sind, hat der GBR solche Sitzungen auf maximal drei Stunden, in denen nur zwei Sachthemen behandelt werden, begrenzt.

„Bei uns im Betrieb wie auch an den weiteren Standorten hat der gewerkschaftliche Aspekt an Bedeutung gewonnen, das sehe ich sehr positiv. Da sind ganz neue Basics entstanden. Ich freue mich, dass in Sachsen, Thüringen, und Sachsen-Anhalt jeder Betrieb in der Tarifkommission vertreten ist. Gemeinsam mit den Gewerkschaftssekretären konnten wir für die drei Bundesländer drei richtig gute Flächentarifverträge abschließen“, betont Kotte, der auch Mitglied der Tarifkommission ist. Noch vor drei Jahren wäre es undenkbar gewesen, dass Kollegen in Borgholzhausen (NRW) an einem Warnstreik teilgenommen hätten.

Um Arbeitsplätze bangen muss der GBR der Nagel-Group momentan nicht, das Unternehmen sucht händeringend nach Mitarbeiter*innen und könnte gut und gern 400 Leute einstellen. Herausforderungen liegen an anderer Stelle. So sei der größte Erfolg, den der GBR erreicht habe, eine „supergeniale Gesamtbetriebsvereinbarung zur Künstlichen Intelligenz (KI). Die haben wir schon 2021 abgeschlossen, ohne zu wissen, welche Fahrt dieses Thema aufnehmen wird.“

 

KI in der Logistik

Er sei sicher, dass KI in der Logistik eine wachsende Rolle spielen wird, im Bereich der Tourenplanung habe sie bereits Einzug gehalten. Aber die Entwicklung gehe weiter. „Wir sind eines von ca. 600 Unternehmen weltweit, die den Copiloten, eine Assistentenfunktion mit KI für Microsoft 365-Anwendungen, einführen. Das ist so etwas wie ChatGPT in der Office Umgebung für den persönlichen Bereich. Man kann das Tool beispielsweise anweisen, die Inhalte der wichtigsten Mails der letzten Woche zusammenzufassen; innerhalb einer Minute kommt das Ergebnis. Für mich ist das fast so, als hätte man den Computer noch einmal neu erfunden.“

Die große Herausforderung werde sein, Leute für neue, KI-basierte Tätigkeiten zu qualifizieren. Die Leute müssen wissen, dass sich ihre Arbeitswelt rasant verändert und dafür bereit sein. In der Pflicht seien aber zu großen Teilen der deutsche Gesetzgeber und die EU. „Die müssen entsprechende Ethikrichtlinien aufstellen. KI darf die Leute unterstützen, aber sie darf nie den Menschen oder das Denken ersetzen.“ Wichtig im Zusammenhang mit der KI sei die Wahrung der Persönlichkeitsrechte der Beschäftigten. „Momentan haben wir diese mit einer Vereinbarung abgesichert. Aber die Implementierung von Microsoft 365-Tools stellt uns vor große Herausforderungen – die amerikanischen Systeme berücksichtigten Persönlichkeitsrechte kaum und die Arbeitgeber spielten mögliche Eingriffe herunter. Zum Glück habe der GBR in seinem IT-Ausschuss seit über 30 Jahren einen externen Sachverständigen, der ihm hilft, Gefahren zu erkennen. „Als Betriebsrat müssen wir da sehr aufpassen. Wir arbeiten stetig daran, die Nutzung der Tools im Sinne der Beschäftigten zu regeln.“ Oftmals funktioniere das leider nur auf juristischem Wege über eine -externe Einigungsstelle.

Auf die richtige Balance kommt es an

Wie von allen Mitgliedern fordert die Arbeit im Betrieb und im GBR von Kotte hohen Einsatz. Und weil das noch nicht reicht, ist der inzwischen 56-Jährige noch ehrenamtlich aktiv – bei der Berufsgenossenschaft Verkehr und als Richter beim Arbeitsgericht Dresden. Der Burnout hat ihn gelehrt, auf die Signale seines Körpers zu achten und für Ausgleich zu sorgen: Den Kopf bekommt er frei bei den Spielen seines Fußballvereins Dynamo Dresden. Und entspannenden Einfluss hat die Zucht von Zwerg-Holländer Haubenhühnern. Wenn er mal wieder in die Luft gehen könnte und er das Glück hat, im Homeoffice zu sein, geht er für einen -Moment zu seinen Hühnern. Danach kann er ruhig und besänftigt zum Wohle der Beschäftigten weiterarbeiten.

Ute Christina Bauer